Dieses Juwel der Songwriterkunst überstrahlt alle anderen Nick Cave-Alben. (2024)

laut.de-Kritik

Dieses Juwel der Songwriterkunst überstrahlt alle anderen Nick Cave-Alben.

Review von Ulf Kubanke

Ein Meilenstein für Nick Cave. Nur welcher? Die Albenliste des australischen Haus- und Hofgenius ist bekanntermaßen nicht gerade arm an Sternstunden. Ehrwürdige 80er-Indie-Veteranen schwören seit einem Vierteljahrhundert auf "Firstborn" und "Funeral". Liebhaber dunkler Romantik wollen ihren "Guten Sohn" oder das "Zärtliche Beutetier". Spätberufene halten seine "Mordballaden" für das Maß aller Dinge. Doch ein wahres Juwel der Songwriterkunst fehlt stets in den Favoritenlisten: das herausragende "Let Love In".

Nach der erfolgreichen "Henry's Dream"-Tour befindet sich Cave 1994 auf seinem künstlerischen Höhepunkt. Endlich kann er den unfreiwilligen Lowfi-Produktionen vergangener Tage 'Adieu' sagen. Tony Cohen – seines Zeichens alter Cave-Intimus und australische Alternative Producer-Ikone (Birthday Party, Go Betweens, Beasts Of Bourbon) – nutzt die neu gewonnenen Freiheiten songdienlich. Er bringt die ganze melodische Dramatik des hageren Mannes aus dem rotstaubigen Nest Warracknabeal auf den Punkt.

Egal ob Crooner-Momente wie "Nobody's Baby Now" oder ein rastloser Highwayklopper wie "Jangling Jack" - die bislang mitunter recht zweidimensional umgesetzte Soundästhetik weicht einem kraftstrotzenden Volumen. Dabei achtet Cohen wohltuend bewusst darauf, die angedeutete Opulenz nicht zu überfrachten. Somit erhält der bleiche Schmerzensmann des Postpunk endlich und erstmals die Chance, seine bedrohlich raubtierhaften Ausbrüche mit der katzengleichen Eleganz der Liveshows zu zelebrieren. Er wird sie nicht verstreichen lassen.

Auch die in jenen Tagen künstlerisch und menschlich noch heile Welt der Bad Seeds findet den Zenit ihres Ausdrucks. Als begleitendes Fundament und ordnendes Korrektiv für die überbordenden Ideen ihres Kapellmeisters haben sie es ohnehin über die Jahre zur Weltmeisterschaft gebracht. Ihr sandiger Kollektivsound klingt unverkennbar.

Doch nunmehr treten die sämtlich ausgezeichneten Solisten endlich ein wenig mehr ins Scheinwerferlicht. Transparenz und Unverzichtbarkeit des jeweiligen Instruments kommen klarer zum Ausdruck. Die Lieder geraten auf diese Weise runder und gehaltvoller. Selbstverständlich ohne jeden kommerziellen Kompromiss in Texten oder Arrangements. Edelgäste wie Jugendkumpel Rowland S Howard (Birthday Party, These Immortal Souls, Crime And The City Solution) oder erstmalig der spätere Freund und Soundtrackpartner Warren Ellis an der Violine tauchen hier auf. Was für eine Ansammlung schräger Charakterköpfe.

Diese LP wäre eine andere geworden ohne den musikalisch wichtigsten Widerpart Caves. Sie ziert in weiten Teilen die Handschrift eines Mannes: Blixa Bargeld. Das tiefe nonverbale Verständnis der beiden in künstlerischer Hinsicht oft diktatorisch agierenden Streithähne verwundert nicht. Beide haben in ihren Mutterbands den tollwütigen Berserker gegeben. Beide kennen mittlerweile den Sturm und ebenso sein stilles Auge. Mit entsprechend traumwandlerischer Sicherheit des alten Showbiz-Ehepaares lassen sie Ruhe und Dynamik miteinander kollidieren. Heraus kommt indes kein akustischer Totalschaden, sondern Caves vielseitigster Songzyklus.

Schon der Opener "Do You Love Me?" bringt alle genannten Vorzüge auf den Punkt. Wie Elektroschocks schießt der anämische Berliner Vampir schroff hallende Hypnose-Riffs aus der Hüfte. Cave toppt das Charisma mit einem unnachahmlich schicksalsschwangeren Pianothema, das den Lyrics alle Richtungen von Edelschnulze bis Tragödie offen hält. Im Chorus steht Caves von Weib und Selbstzweifel gepeinigtes Opfer herrlich unsicher neben der energisch gerufenen Forderung des deutschen Partners. Einer seiner gelungensten Songs überhaupt. Vereint er doch die Wucht von "Tupelo" mit der Melodieseligkeit des "Weeping Song". Im Verlauf der Platte tauschen beide gern die Rollen. Oft sind es auch Caves Klavierfiguren, die den rauhbeinigen Ghostrider-Anschlag Blixas gekonnt und gänzlich uneitel in Szene setzen.

"Loverman" changiert als animalischer Sex-Bonbon zwischen teuflisch zurückgenommener Groove-Sinnlichkeit und einem infernalisch krachenden Höhepunkt im Refrain. Da liegt ein Teufel an deiner Seite. Er ist hungrig, wund, dreckig und arm. Gib ihm mehr, mehr, mehr. Besonders live hat sich das berstende Brett zum unverzichtbaren Highlight eines fast jeden Gigs entwickelt. Wer einmal herzhaft lachen möchte, höre sich bitte Metallicas unfreiwillig impotente Mackervariante dieses Kleinods auf deren ohnehin limitierten "Garage Inc" an.

Noch mehr Superlative? Kein Problem. Der oldschoolige Garagenbrecher "Thirsty Dog" stopft allen Unkenrufern das Maul, die bereits seit "The Good Son" neurotisch den totalen Ausverkauf herbeireden möchten. In "Lay Me Low" lamentiert sich Nicholas Edward Cave lässig gospelnd, mit gewohnt manischen Tobsuchtstupfern ins selbst gebaute Nirvana seines ganz individuellen Cave-Australo-Blues. Das gothische Element darf freilich nie ganz fehlen. So lässt "Ain't Gonna Rain Anymore" neben dem darbenden Erzähler ganze Landstriche verdorren, seit die Gefährtin unwiderruflich gegangen ist.

Trotz allem stehen zwei Höhepunkte noch aus. Das famose Titelstück umspült den Hörer wie ein Down Under-Bächlein und konterkariert in seiner Harmonieseligkeit die schwerblütige Grundmelodie. "Darling, Du bist wahrlich die Strafe für all meine früheren Sünden!" Caves augenzwinkernder Humor, den ihm viele der schlichteren Musikgeister in der Schwarzkittelszene aus Unkenntnis gern absprechen, ist ohnehin auf "Let Love In" auch zwischen den Zeilen sehr präsent.

Zur Krönung des Spektakels fehlt jetzt nur noch die ganz böse Saat: ein absoluter Alltime-Evergreen für das Album. Den liefern sie uns mit "Red Right Hand". Egal ob Metaller, Goth, Jazzer, Popfan oder Indie-Head - dieser unwiderstehlich groovende Killer schlendert, mitunter leicht hinkend arrangiert, als elegantes Sahnehäubchen in die Ohrmuschel. Er verlässt diesen Ort nie wieder.

"Let Love In" macht als Meilenstein im Wortsinne auf schmerzhafte Weise deutlich, dass ein künstlerischer Partner wie sein ehemaliger German Mate heute fehlt. Cave braucht keine devoten Sidekicks, sondern seelenverwandte Kontrapunkte. Wohl auch deshalb ist Grinderman nicht viel mehr als eine gigantische Ersatzhandlung; die kreativ 'ganz nette', doch letztendlich aussichtslose Kompensation des künstlerischen Phantomschmerzes durch Blixas Ausstieg.

Trost bietet die dieser Tage erscheinende Remastered Version. Neben einem Making Of finden sich dort auch alle B-Seiten zu den Singles sowie deren Clips zur luxuriösen Doppel-CD zusammen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Dieses Juwel der Songwriterkunst überstrahlt alle anderen Nick Cave-Alben. (2024)

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